
Am Fels
Die Klettersteige Vallon und Piz da Lech
Zum 38. Mal in seinem Leben öffnet Manuel Agreiter die Tür zur leeren Hütte außerhalb der Hochsaison. Die Stille des Raums bricht der rechte Fuß zuerst, zum ersten Mal seit acht Monaten berühren Schuhsohlen die Cotto-Fliesen. Es ist Juni und mit Sohn Matteo und Ehefrau Cristina hat er den ersten Aufstieg der Saison hinter sich. Rund um die Hütte müssen meterweise Schnee geschöpft, Hubschrauberlieferungen entladen und ein komplexes Wasserleitungssystem wieder in Gang gesetzt werden. Die Tage, bis sich der Raum mit hungrigen Bergsteiger:innen füllt, sind gezählt, in der Luft liegt der Duft von Cristinas typischen Südtiroler Gerichten.
Ob in den Dolomiten geboren, aus der Ferne zugereist oder glückliche Zeug:innen ihrer Schönheit, nur wenige können behaupten, diese beeindruckenden Bergreliefs mit ganzem Wesen und Herzen zu leben und zu atmen, sie so zum Lebensmittelpunkt zu machen, wie es Manuel Agreiter so leidenschaftlich tut. Sein Beruf als Bergführer ist Berufung und Lebenseinstellung. Tag für Tag pflegt er die große Liebe zu diesen Bergen und begleitet Besucher:innen bei der Erkundung der Landschaft bis auf die höchsten Gipfel.
„... diese Aussicht, diese Gipfel, der Blick auf diese Berge, daran werde ich mich nie satt sehen. Ich bin seit fast 40 Jahren hier auf dieser Hütte. Manchmal abends, wenn ich hier allein etwas raste, vielleicht ein Bier oder etwas anderes trinke – [lacht] – schaue ich mir diese Berge an und denke, wie wundersam es ist, dass sie nie dieselben sind: an einem Tag schneebedeckt, an einem anderen regenverhangen oder stürmisch und bewölkt; dann öffnet sich plötzlich der Himmel, hell und klar, Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, immer in Bewegung, immer anders. Es gibt leuchtende, schöne, perfekte, außergewöhnliche Momente … und trübere, aber auch sehr interessante … denn wenn Nebel aufzieht, kommen Nebenspitzen zum Vorschein – etwas Einmaliges. Beim Anblick der Berge schätzt man jeden Augenblick. Und wenn du so etwas erleben kannst, wird dir nie langweilig.“
Manuel Agreiter, Bergführer und Hüttenwirt der Franz-Kostner-Schutzhütte
Die Franz-Kostner-Schutzhütte steht auf 2.250 Metern Höhe inmitten der Hochgebirgslandschaft auf dem allseits bekannten Sella-Plateau in Alta Badia – nur wenige Gehminuten vom Ausgangspunkt der Klettersteige Vallon und Piz da Lech entfernt. Der Zustieg ist der reine Luxus: Wer eine der beiden Touren machen möchte, kann vom Parkplatz in Corvara mit der Boè-Kabinenbahn zum Vallon-Sessellift fahren, von dessen Bergstation aus der Einstieg zu beiden Klettersteigen als auch die Hütte leicht zu Fuß erreichbar sind.
Klettersteige sind gesicherte Hochgebirgswanderwege, ausgestattet mit Stahlseilen und anderen Querungshilfen wie Leitern, Ketten und Brücken, was vom Kletternden Agilität und eine Kombination aus Wandern und Klettern erfordert. Es ist eine der intimsten Arten, einen Berg zu erleben, seine schroffen Wände zu erklimmen, sich mit dem Fels zu vereinen, um sicher hochzukommen. Diese im Ersten Weltkrieg errichteten Wege dienten einst den Truppen, um sich durch tückische Höhen und arge Bedingungen zu bewegen. Inzwischen sind sie zum Symbol alpinen Abenteuers geworden, die modernisierten Infrastrukturen werden von Einheimischen wie Tourist:innen gleichermaßen genutzt. Alle Klettersteige erfordern entsprechende Ausrüstung: Klettergurt, Helm und Klettersteig-Set mit Seilen, Karabinern und Falldämpfer.


Wir dort oben
Ein Tag im Hochgebirge, oberhalb der Baumgrenze, auf unwegsamem, mondähnlichem Gelände, verändert uns – zweifellos: Eins mit der Natur und gleichzeitig ihr ausgeliefert. Die Sinne sind aufs Äußerste geschärft – vielleicht ist es das Adrenalin, vielleicht das natürliche Gefühl, sich vollkommen des eigenen Körpers und Geistes bewusst zu sein. Im Kontrast dazu steht das alltägliche Leben weit unten. Der Berg kann der einsamste Ort auf Erden sein, dort oben begegnen wir uns selbst und unseren Grenzen, wir finden Wege, sie zu überwinden – oder auch nicht. Ohne Zutun erfüllt uns Dankbarkeit für diese Schönheit rundherum. Nur in den Bergen können wir wahrhaftig wir selbst sein, in unserer echtesten, freiesten Form.
Die Klettersteige
Vallon
Der Klettersteig Vallon ist 250 Meter hoch, 2024 komplett neu gestaltet für ein hochmodernes Bergerlebnis mit maximalen Sicherheitsmaßnahmen. Manuel beschreibt den etwas mehr als einstündigen Aufstieg als „großartige Option für Anfänger:innen voller Besonderheiten mit schwebendem Abschnitt zwischen zwei Seilen und interessanten vertikalen Passagen“. Hat man den Klettersteig geschafft, gibt es zwei Möglichkeiten: Viele Bergsteiger:innen gehen direkt zum höchsten Gipfel des Sellastocks, dem Piz Boè (3.152 m), der in anderthalb Stunden Gehzeit erreicht werden kann. Der Weg ist mit einem Stahlseil ausgestattet, an dem man sich für den Aufstieg entlang des Lichtenfelser Steigs sichern kann, also kann die Klettersteigausrüstung anbehalten werden. Alternativ kann man den etwa 30-minütigen Aufstieg zum etwas abgelegenen Gipfel der Neunerspitze (Sass dles Nö) in Angriff nehmen und dabei einen eindrucksvollen Blick auf die Freeride-Abfahrt im Mittagstal genießen. Aufgrund der Kletterwand neben dem Klettersteig kehren viele Kletternde über den Steig nach unten zurück. Wer aber den Klettersteig hochgeht, sollte besser über den Ringbandweg absteigen.
Piz da Lech
Mit 370 Höhenmetern ist der Klettersteig Piz da Lech etwas länger als der Vallon. Das Schöne an dieser, nur für den Aufstieg empfehlenswerten Route ist, dass man sich im Moment, in dem man sich vom Seil löst, direkt auf einem Gipfel steht – im Gegensatz zu vielen anderen Klettersteigen, bei denen noch ein Stück zu Fuß zurückgelegt werden muss. Vom Piz da Lech aus hat man einen 360-Grad-Blick auf die Wahrzeichen der Dolomiten: Puez, Geisler, Lavarella, Heiligkreuz, Gröden, Langkofel und so fort. Auf etlichen Spitzen steht ein Kreuz, natürlich auch auf dem Piz da Lech – äußerst sehenswert.
Für den Abstieg gibt es zwei Möglichkeiten: Die erste ist, zurück nach Vallon zu kehren und mit dem Sessellift abzusteigen oder der Franz-Kostner-Schutzhütte einen Besuch abzustatten. Die zweite besteht darin, dem Grat zu folgen und auf direktem Weg nach Corvara abzusteigen. Ganz gleich, für welchen Rückweg man sich entscheidet: Man sollte die Klettersteigausrüstung immer anbehalten und sich beim Absteigen an den Seilen des gesicherten Steiges festhalten.


Der Berg
Die Finger in Fels zu stecken, ist so beruhigend wie eine Umarmung. Wir suchen Halt, klammern uns fest, spüren die Kraft des versteinerten Korallenriffs und des kristallisierten Magmas an unseren Handflächen. Scharfe, über Millionen Jahre von allen Wettern geformte Kanten tragen nun beim Aufsteigen unser Gewicht. Dieser Fels hält uns, wir vertrauen auf seinen Rückhalt. Der Berg lehrt uns, unserer Umgebung und uns selbst zu vertrauen. Vielleicht ist das der Grund, warum Manuel Agreiter seine Liebe zum Berg mit der Liebe zu seiner Mutter vergleicht. Der Berg wacht über uns auf unserer Reise nach oben und zu uns selbst, stark und kräftig hält er unser Ego in Schach und lehrt uns Respekt.
Die Gastfreundschaft
Überraschung! Wer die Franz-Kostner-Schutzhütte betritt, steht mitten im Zuhause von Familie Agreiter. Also kann es schon mal passieren, dass Nila, Golden Retriever und viertes Mitglied der Familie, den Weg hinein versperrt – ihr Nickerchen hält sie gern, wann und wo sie will und vorzugsweise direkt vor der Eingangstür. Bitte Platz nehmen und die umfangreiche, mit Matteos Fotos und Berggeschichten gefüllte Speisekarte aufschlagen, die Zeit in dieser Hütte genießen und ein wenig von der Energie einer Familie aufsaugen, die in und mit den Bergen lebt.
Sicherheitshinweise
„Gut ausgerüstet zu sein ist das A und O in den Bergen“, unterstreicht Manuel. Leichte Kleidung, gute Bergschuhe und ein Rucksack sind ein Muss, einerlei, welcher Bergsport uns an einem Sommertag in die Höhe treibt. In den Rucksack gehören unbedingt eine warme Jacke, mittlere Schichten, eine wasserdichte Jacke, Kleidung zum Wechseln, eine Kopfbedeckung, Sonnencreme, Sonnenbrille, Wasser und einige energiereiche Snacks. Das Gebirge ist ein unsicheres, unberechenbares Gelände der Extreme. Für Personen mit wenig Erfahrung, insbesondere auf Klettersteigen, ist eine:n Bergführer:in ratsam, um das Risiko zu minimieren und sicher vom Berg zurückzukehren.
Amy Kadison ist in Connecticut (USA) aufgewachsen, 2016 für eine Diplomarbeit nach Südtirol gekommen und der Berge wegen geblieben. Die Autorin und Önologin hat in sechs Ländern gelebt und zwei Masterstudien in Zoologie und Weinbau absolviert.