
Der rote Berg
Lesenswerte Legenden
Moltina hatte ein Kindlein bekommen, das ihr viel Arbeit gab; oft schrie es auch bei Nacht und sie mußte aufstehen, um es zu warten und wieder in Schlaf zu wiegen. Einmal, als ihr das gerade gelungen war und vollkommene Stille herrschte, glaubte Moltina, in der Ferne ein seltsames Geräusch zu vernehmen. Sie ging leise hinaus, um besser zu hören. Es war tiefe Nacht und das Mondlicht floß in weichen Wellen um die hohen Felsgestalten der Berge; der Wind kam von der Abendseite. Plötzlich ertönte wieder ganz deutlich ein merkwürdiges Getöse. Erschrocken eilte Moltina zurück und weckte ihren Gatten. Dieser horchte, bis auch er das Getöse vernommen hatte; dann sprach er:
„Verbirg dich schnell mit dem Kinde — denn das ist Waffengeklirr und das Stampfen gerüsteter Männer und Rosse; ein ganzes Heer rückt heran.“
Da verwandelte sich Moltina in ein Murmeltier und ihr Kindlein auch und sie schlüpften bis an das tiefste Ende einer engen Kluft, wo schon andere Murmeltiere schliefen. Unterdessen wälzte der Prinz große Steinblöcke vor die Öffnung und blieb in Waffen dahinter stehen.
Doch nun hörte man nichts mehr bis zum grauenden Morgen. Endlich, als es tagte, wagten sich alle wieder ins Freie, und da erkannten sie, daß weit und breit nichts Ungewöhnliches zu sehen war. Die Murmeltiere aber stellten sich auf die Steine und begrüßten freudig die heraufziehende Sonne. Der große Berg war ganz rot und seine Felsen glühten herrlicher denn je.
Gegen Mittag begab sich der Prinz nach Popéna hinunter, um mit seinen Angehörigen zu sprechen und ihnen zu erzählen, was er nachts gehört hatte. Aber niemand glaubte ihm, denn ringsherum war seit langer Zeit alles ruhig. Er blieb dabei, daß er mit voller Sicherheit einen Heerzug vernommen habe, und ermahnte seine Angehörigen und deren Gefolgschaft zur Wachsamkeit. Dann kehrte er zurück auf die Hohe Geisl.
Und schon in der nächsten Nacht war das ferne Klirren und Stampfen wieder vernehmbar. Der Prinz ging dem Schalle nach und gelangte an der Westseite des Berges zu einer ihm wohlbekannten Weidefläche. Hier sah er nun im Vollmondlichte Abteilungen von Bewaffneten zu Fuß und zu Roß, die da Übungen machten. Er bemerkte aber auch gleich, daß ihnen die Sache ganz neu war, denn selbst die Befehlshaber wußten ihre Abteilungen nicht zu leiten; oft ging alles durcheinander und Waffen und Pferde waren ungleich und schlecht. Nach einiger Zeit wurden die Verbände gelöst und große Wachtfeuer angezündet; man kochte ab und rastete.

Da ging der Prinz zu einem der Wachtfeuer, um mit den Leuten zu sprechen. Als sie hörten, daß er ein Bewohner der Croda Rossa sei, begrüßten sie ihn freundlich, luden ihn ein, an ihrem Mahle teilzunehmen und gaben ihm bereitwilligst Auskünfte.
„Wir heißen Fànes“, sprachen sie, „und wohnen jetzt da drüben auf Sennes und Wanna; eine alte Überlieferung unseres Volkes besagt aber, daß wir aus der ,Splanèdis‘ (der großen Ebene des Ostens) in diese Berge geflüchtet seien, weil wir uns im freien Felde nicht mehr behaupten konnten; wir sind friedfertige Leute und so lebten wir hier lange Zeit in vollkommener Ruhe; da wir aber nun erfahren haben, daß ein fremdes Volk uns überfallen will, so rüsten wir zur Abwehr. Die Übungen machen wir bei Nacht an der äußersten Ostseite unseres Gebietes.“
Der Prinz gab ihnen nun Ratschläge bezüglich ihrer Waffen und bezüglich der Gliederung und Kampfordnung. Weil sie aber sahen, daß er vernünftig redete und das Kriegswesen beherrschte, so faßten sie Vertrauen und baten ihn, er möge wiederkommen, um ihre Übungen zu leiten.
Schon nach kurzer Zeit genoß er solches Ansehen bei ihnen, daß sie ihn zu ihrem Feldhauptmann wählten. Und daran taten sie wohl; denn als es zum Kampfe kam, führte er sie gut und sie gewannen den Krieg.
Nach der Heimkehr überhäuften sie den Prinzen mit Ehrenbezeigungen, hoben ihn vor versammeltem Volke auf den Schild und riefen ihn zum König aus. Im nächsten Jahr erbauten sie ihm dann auch eine Burg an den Conturìnes. Bevor der neuerwählte König mit seiner Gemahlin diese Burg bezog, ließ er an der Hauptmauer ein weißes Murmeltier aufmalen und alle Fànes führten fortan das Murmeltier auf ihren Schilden.
Das Reich der Fànes wuchs an Macht und Ansehen. Auch die Hohe Geisl wurde bald in das Reich einbezogen und es erstreckte sich von der Wannawand bis zu den scharfgezackten Bergen der Bedoyères und Landrínes. –
Eines Tages besuchten der König und die Königin die alte Anguàna auf der Hohen Geisl und erzählten ihr viel von dem Reich der Fànes. Die Alte aber sprach zu ihnen:
„Ihr seid die Stammeltern eines kommenden Herrschergeschlechtes, das dem Reich der Fànes einen ungeahnten Aufschwung bringen und durch lange Zeiträume alle anderen Fürstenhäuser an Ruhm und Ehre überstrahlen wird.“
Dann fragte sie, ob Moltina nie mehr das Stammschloß ihres Gatten im Popénatal besuchen würde. Moltina geriet in Verlegenheit und erklärte schließlich, daß eine unüberwindliche Scheu sie noch immer davor zurückschrecken lasse.
„Wenn es so ist“, sagte die alte Anguàna, „dann wird der Berg, auf dem wir stehen, für alle Zeiten rot bleiben!“ Und so geschah es.
KARL FELIX WOLFF, 1879 in Karlstadt/Kroatien – 1966 in Bozen, Sohn eines altösterreichischen, aus Troppau gebürtigen Offiziers und einer aus ladinischem Nonsberger Adel stammenden Mutter, lebte seit 1881 bis zu seinem Tod ununterbrochen in Bozen, von seinem Vater erzogen, als Volkskundler Autodidakt, von Beruf Journalist. Seinen Nachlass verwaltet das Forschungsinstitut Brenner-Archiv Innsbruck. Eine „Kritische Lektüre der Dolomitensagen von Karl Felix Wolff“ hat Ulrike Kindl veröffentlicht.