
Sommerfrische: Zeit der Unbeschwertheit
Kurze Geschichte des Sommertourismus
Die Sonne strahlt vom kristallklaren, blauen Himmel, schüchtern rahmen sie nur ein paar wenige weiße Wolken, die Gipfel von Sassongher, Col Alt, Sas dla Crusc, Piz Boè, Lavarela und Conturines leuchten in schillernder Pracht talwärts, die Almwiesen tragen ein fast leuchtendes Grün, die Luft ist klar und warm und angenehm frisch zugleich. Es ist Sommer hier in Alta Badia. Die Ferien haben gerade erst begonnen und die Liste an möglichen Aktivitäten, an Unternehmungen und Ausflügen zwischen wilden Gipfeln, sanften Tälern und einladenden Dörfern scheint endlos.
Und doch war dies einst gewiss kein Urlaubsort. Die Berge waren hoch, die Täler unwegsam, die Dörfer arm und abgeschieden von allem und allen. Dennoch haben die Menschen hier stets die Ärmel hochgekrempelt und angepackt, zunächst für die harte Arbeit auf den Feldern, später dann als Ausweg aus der Armut eine ganz eigene Form der Gastfreundschaft pflegend. Die Schönheit dieser Gegend war ein Geschenk, das viele zu schätzen wussten. Als es auch die Bevölkerung von Alta Badia – ein wenig später als die benachbarten Täler – begriffen hatte, gab es kein Halten mehr. Das Ergebnis? Die Sommerfrische, beziehungsweise Flucht aus den heißen Zentren und Städten in die Kühle der Berge, wurde zu einem erfüllbaren Wunsch, zu einem wahr gewordenen Traum, zu einer reizvollen Jahreszeit, in der Städter:innen und Gäste gemeinsam die Wunder der Gipfel, Täler und Dörfer genießen konnten.
Mutige, neugierige Entdeckerinnen und Entdecker
Mitte des 19. Jahrhunderts waren die ersten, die in dieses immer noch sehr isolierte und abgeschiedene Tal vordrangen wie andernorts in den Alpen Geologen, Entdecker und schließlich Bergsteiger, vor allem aus England, die trotz schwieriger Bedingungen dem Ruf der noch unberührten Höhen der Dolomiten nicht widerstehen konnten. Einer der ersten, der diesen Neugierigen Alta Badia näherbrachte, war der aus Colfosco stammende Giovanni Battista Tita Alton, angesehener Sprachprofessor in Prag, Wien und Rovereto, Autor maßgeblicher Texte über die ladinische Sprache und Kultur und 1866 Gründer der Sektion Ladinia des deutschen und österreichischen Alpenvereins. Wenn er für die Sommerferien in seine Heimat zurückkehrte, brachte Tita oft Freunde aus europäischen Großstädten mit: „Die Abgeschiedenheit und Einsamkeit des Gadertals wird im Sommer nur kurz von wenigen Touristen unterbrochen, die sich dorthin verirren …“, vermerkte Alton. Einige kamen schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Sommer aus den nahegelegenen Tälern, um in den Phosphorquellen zu baden, die jedoch kein Vergleich zu anderen, damals schon viel weiter entwickelten Südtiroler Kurbädern waren.
Selbst John Murray, Autor der berühmten ersten Generation von Reiseführern Handbooks for Travellers, kam in das Tal und widmete ihm einige Seiten. Oder Josiah Gilbert und George C. Churchill, die zu den ersten Entdeckern der Alpen gehörten und den Namen Dolomiten in ihrem Buch The Dolomite Mountains geprägt haben, besuchten Corvara, San Leonardo und San Cassiano. Die Schriftstellerin und Weltenbummlerin Amelia B. Edwards kam 1872 ebenfalls nach Corvara. In ihrem Bericht über ihre „hochsommerlichen Wanderungen in den Dolomiten“ mit dem Titel Untrodden Peaks and Unfrequented Valleys erzählt sie auch von ihrem Aufenthalt im Hotel Rottonara (dem heutigen Hotel Posta Zirm): „Das kleine Gasthaus besteht aus zwei Gebäuden, einem alten und einem neuen. Letzteres ist den Reisenden der ersten Klasse vorbehalten und verfügt weder über öffentlich zugängliche Räumlichkeiten noch über eine Küche. Das neue Haus verströmt den süßen, frischen Duft von weißem Kiefernholz, mit dem die Böden, Wände und Decken aller Zimmer im oberen Stockwerk verkleidet sind. Die Räume im Erdgeschoss wurden vor kurzem verputzt und weiß gestrichen.“


Gemeinsam die Zukunft erfinden
In nur wenigen Zeilen gelingt es Edwards, ein frühes Portrait der ladinischen Gastfreundschaft zu zeichnen, die damals noch sparsam war, aber durchaus schon warm und aufmerksam. Einige Gasthäuser und Pensionen nahmen die ersten unerschrockenen Reisenden auf, aber es sollte noch lange dauern, bis der heutige Erfolg im Tal einkehrte. Straßen zur Anreise gab es nicht, Strom für Licht und Wärme auch nicht, auch kein Leitungswasser. „Wir lebten von einem Tag zum anderen“, erinnert sich Paul Pizzinini, langjähriger Direktor des Hotels Rosa Alpina in San Cassiano, „aber wenn etwas notwendig war, halfen wir alle zusammen, um zu tun, was getan werden musste. Wir teilten uns in kleine Gruppen auf und arbeiteten hart, wir bauten Straßen und Kraftwerke, Aquädukte und Skilifte“. Zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den 1960er Jahren geschah dies in rasantem Tempo (1963 entstand auch die Marke Alta Badia). Heute darauf zurückblickend erscheint alles unglaublich, doch nur dank der Entschlossenheit der Bewohner:innen und ihres starken Willens, ihre Zukunft selbst zu erfinden, liegen Vergangenheit und Gegenwart so nah beieinander. Vor allem einige visionäre Persönlichkeiten waren an dieser Entwicklung maßgeblich beteiligt. Man denke an den Bauer und Handwerker Jakob Kastlunger, der dank einer Idee des bereits erwähnten Alton und der Initiative der Sektion Bamberg des DuÖAV (Deutscher und Österreichischer Alpenverein) die Gelegenheit ergriff, in einem Sommer das zu verdienen, was er sonst in zehn Jahren verdient hätte, und 1984 die erste Schutzhütte, die Bamberger Hütte (heute Rifugio Boè) am Fuß des Boè erbaute. Es folgten weitere, die alle dazu dienten, Bergsteiger:innen und Entdecker:innen auf den Spitzen der Dolomiten willkommen zu heißen. Nach Kastlunger waren es Franz Kostner aus Corvara (der zusammen mit seinem Schwager 1926 auch das erste Kraftwerk baute) und Peter Videsott aus Piccolino, der in den 1920er Jahren das erste Transportunternehmen im Tal gründete. Dann war da noch Erich Kostner, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den ersten Sessellift auf den Col Alt zu errichten und damit im Tal die Möglichkeiten für Aufstiegsanlagen im Winter mit Skiern, aber auch im Sommer grundlegend zu verändern und immer mehr Gästen zu ermöglichen, in die Berge zu fahren und diese (auch von oben) zu genießen. Nicht zu vergessen auch die zahlreichen Hoteliers, die Gastfreundschaft in den Bergen mit viel Herzblut in eine wahre Kunstform verwandelt haben, die von Gästen aus der ganzen Welt geschätzt wird. Unter ihnen verdient die Chefin des Hotel Cappella in Colfosco, Renate Kostner Pizzinini, eine besondere Erwähnung: Als Hoteliertochter sprühte sie vor Leidenschaft für die Berge, war eine mutige, unabhängige und unternehmungslustige Bergsteigerin und die erste Frau Führerschein in ihrem Dorf. Ihr Abenteuer im Tourismus begann Renate in einem kleinem Souvenirgeschäft, in dem sie während der Saison arbeitete. Nach dem frühen Tod ihres Vaters übernahm sie im Alter von nur 23 Jahren mit ihrer Mutter und ihrer Schwester die Leitung des Familienhotels. Nachdem sie Guiseppe Pepele Pizzinini geheiratet hatte, beschloss sie Ende der 1960er Jahre, ihr bescheidenes Hotel Cappella zu vergrößern und zu renovieren und in eines der renommiertesten, modernsten und attraktivsten Häuser des Tals zu verwandeln.
Loblied auf den Urlaub
„Früher blieben die Gäste länger, mindestens ein paar Wochen, manche sogar einen Monat oder mehr, um den Sommer an einem kühlen Ort mitten in der Natur zu verbringen“, erinnert sich Andy Pertot, Hotelier in San Cassiano und Präsident der Marke Alta Badia. „Manche Familien kamen mit einem winzigen Fiat 500, ganz eingezwängt, aber glücklich, ließen das Auto beim Hotel stehen, um zu wandern, Spaziergänge oder Picknicks im Freien zu machen und in aller Ruhe die Landschaft zu genießen.“ In den Jahren des touristischen Booms der Nachkriegszeit füllte diese Art von Urlaub die Sommer und unterschied sich sehr von den heutigen Ferien, die – leider – oft viel kürzer sind. Auch Richard Pecosta, Inhaber des Hotels Sassongher in Corvara, erinnert sich gerne an die Jahre zwischen den 1960er und 1970er Jahren: „Wir hatten hier im Hotel jede Menge schöne Zeiten. Gäste wurden zu Freunden und Freundinnen, stundenlang unterhielten wir uns, verbrachten ganze Abende miteinander und tanzten. Wir hatten vier Bars, die immer voll waren und viele Gäste anzogen, weil sie sich nach der Zeit im Freien drinnen austauschen und unterhalten konnten. Jahr für Jahr kehrten Familien zurück, persönliche Bindungen wurden vertrauter, Beziehungen stärkten sich.“ Im Lauf der Zeit kamen auch Kinder und Enkelkinder – ein Zeichen dafür, dass die Schönheit des Tals und die ladinische Gastfreundschaft noch immer verzaubern.


Zunehmend aktiver Sommer
Gerade in diesen blühenden und lebhaften Jahrzehnten vollzog sich in Alta Badia ein bemerkenswerter Wandel der lokalen Mentalität. Die Wirtschaft entwickelte sich von der Landwirtschaft hin zum Gastgewerbe und gewann immer mehr an Bedeutung. Dies führte zu neuen Ideen und Projekten, um den Sommerurlaub in der Höhe in vollen Zügen genießen zu können. Wie beispielsweise die Maratona dles Dolomites, ursprünglich als Veranstaltung für Radfans gedacht und mittlerweile eine der bekanntesten und beliebtesten Sommerveranstaltungen für Radfahrer:innen aus der ganzen Welt. Oder die Sellaronda Bike Days, für die zu Sommerbeginn und -ende die Dolomitenpässe für den motorisierten Verkehr gesperrt und für Radler:innen geöffnet werden – ein Festival auf zwei Rädern. Und so ist der Sommer in Alta Badia mit Panoramaausflügen, hochalpinen Wanderungen, Gourmetküche und traditionellen ladinischen Festlichkeiten für Bevölkerung und Gäste nach und nach bunter, lebendiger und aktiver geworden. Die Sonne strahlt immer noch vom kristallblauen Himmel, spielt mit den Wolken, lächelt den Dolomitenspitzen und den leuchtend grünen Wiesen zu, umarmt mit klarer, warmer und doch angenehm frischer Luft die langen schönen Sommertage, die wir alle hier verbringen möchten.
Anna Quinz ist Creative Director und Mitbegründerin der Kommunikationsagentur und des Verlags franzLAB sowie des Magazins für zeitgenössische Kultur in den Alpen franzmagazine.com. Sie arbeitet seit vielen Jahren in den Bereichen territoriales Marketing und Verlagswesen, wobei ihr Schwerpunkt auf der Neu-Erzählung der Bergwelt und desTourismusim Alpenraum liegt.