
Marathon der Herzen
Maratona dles Dolomites
Klick, klick, klack … Um 6:30 Uhr ist alles ruhig und friedlich, Natur und Fahrräder. Lediglich das Klacken der Schuhe ist zu hören – wie sie in die Pedale treten. Und los geht’s! Kein Mucks, niemand sagt ein Wort. Auch die Berge rundherum schweigen. Sie sind einfach da, lauschen dem Summen der Räder, den leise quietschenden Bremsen. Startrituale von Rennen sind etwas Magisches. Das der Maratona Dles Dolomites auf jeden Fall.
Bei der ersten Ausgabe im Jahr 1987 waren es 166 Wagemutige, in den letzten Jahren wurde die Zahl der Teilnehmenden aus logistischen Gründen auf etwa 9.000 begrenzt. Dennoch klopfen jedes Jahr über 30.000 Menschen an die Tür der Maratona, in der Hoffnung, sich den Traum einer Startnummer zu erfüllen. Die Ursprünge dieses Radrennens sind in etwa dieselben wie die der großen Ikonen der Rennszene: Ich denke da an den ersten Giro d’Italia oder den ersten New York Marathon. Da gibt es immer eine Gruppe von mutigen und visionären Freund:innen, die eine Veranstaltung im Kopf herumtragen, ins Leben rufen – zunächst mehr Traum als handfestes Projekt. Aber dann nimmt sie Form an, hinterlässt Spuren, schreibt Geschichte.

Es wird erzählt, dass es tatsächlich eine Gruppe von vier Freunden aus Pedraces war, die 1987 die Idee für eine lange Radfahrt um die Sella Ronda herum hatte, um das Zehnjährige des Radsportvereins Alta Badia Raiffeisen zu feiern. Der Plan für die erste Ausgabe waren 175 Kilometer über 7 Dolomiten-Joche und -Pässe: Grödner, Sella, Fedaia, Duran, Forcella Staulanza, Falzarego und den Valparola. Eine echte Herausforderung, die an die historischen Etappen des Giro d’Italia erinnert.
166 haben sich angemeldet, 145 sind gestartet, darunter nur eine Frau, die niederländische Radfahrerin Trui Beemsterboer. Fürs Protokoll: Sieger wurde der Österreicher Wolfgang Steinmayr, der nach mehr als zehn Stunden extremer Anstrengung für einen Amateur-Radfahrer das Ziel in Pedraces erreichte. Zu diesem Zeitpunkt waren sich weder Organisator:innen noch Rennfahrer:innen bewusst, dass sie Teil eines historischen Radsportmoments waren.
Exakt jener 12. Juli 1987 ist ein Meilenstein und genau da muss angesetzt werden. Die Mund-zu-Mund-Propaganda unter den Amateur:innen, die Schönheit der Strecken im Anblick der Dolomiten, der Einfallsreichtum und die Leidenschaft der Organisator:innen haben den Marathon zum kultigsten Rennen im nicht-professionellen Radsport gemacht.
Dies ist auch oder vor allem das Verdienst von Michil Costa, der seit 1996 den Vorsitz des Organisationskomitees innehat, sowie von Claudio Canins, der es stets verstand, Pläne zu verwirklichen und Ziele zu erreichen. In den letzten 30 Jahren ist die Maratona – wie sie inzwischen alle nennen, weil sie tatsächlich alle verkörpert – international gewachsen und hat ihr Profil im Detail gefestigt. Das Rennen wird auf drei Strecken ausgetragen: die kurze, pardon, die klassische mit den 4 Pässen der Sella Ronda (Campolongo, Pordoi, Sella und Gardena); die mittlere, zu der ein zweiter Campolongo, der Falzarego, der Valparola und neuerdings auch die schicksalsträchtige Mur del Giat hinzukommen; und die lange, die den Giau einschließt, um dieses Fest der Berge zu vervollständigen.
Vom Pordoi bis zum Sella und von Gröden bis zum Falzarego erinnern die Namen der Anstiege an die Geschichte der großen Radsporttage von Coppi und Bartali, Merckx und Gimondi, Induráin und Pantani … allesamt Teil der Geschichte des Giro d’Italia. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ehemalige Champions wie Indurain, Nibali, Bettini und Lelli zu den treuesten Anhängern der Maratona gehören, während andere Pedal-Giganten wie Wiggins, Cassani, Bugno und Museeuw als einfache Enthusiasten teilgenommen haben.


Diese Straßen sind einfach die schönsten, die man sich für den Radsport wünschen kann. Ein prächtiger Radweg im Paradies, ohne Autos und Motorräder. Gott hat sich beim Erschaffen der Dolomiten besonders inspirieren lassen, aber auch der Mensch hat im Lauf der Jahrtausende seinen Teil dazu beigetragen, indem er das Land bewirtschaftet und die Wälder gepflegt hat – unter den Fels hin. Es gibt kein zweites Gebirge auf der Welt, das so gut präpariert ist, so einzigartig.
Versteht ihr jetzt, warum selbst Wirtschaftsmogule, Minister und einflussreichste Persönlichkeiten die Maratona dles Dolomites wählen, um sich zu testen, die edle Anstrengung dieses Sports zu verfeinern und zu feiern? Sie alle, ob Sportler:in, Unternehmer:in oder Radsportbegeisterte im Allgemeinen, kehren gerne hierher zurück – sie fühlen sich sogar zuhause. – Wisst ihr warum? Weil sie in der Vorfreude und dann beim Rennen nur Positives fühlen und erleben. Es geht ihnen einfach gut.
Wir neigen alle dazu, angenehme Erfahrungen wieder heraufzubeschwören, wir versuchen, die Pässe und Radtouren, mit denen wir Schönes verbinden, zu wiederholen. Deshalb kehren jedes Jahr so viele zurück und treffen sich mit Gleichgesinnten derselben Einstellung zum Sport und zum Leben – wenn man so will. Die Maratona dles Dolomites ist all das und noch viel mehr: ein Ereignis der Herzen.
Pierbattista Bergonzi, genannt Pier, ist stellvertretender Chefredakteur der La Gazzetta dello Sport und Herausgeber der Wochenbeilage SportWeek. Neben seiner journalistischen Tätigkeit schreibt er Bücher über den Radsport und den Sport im Allgemeinen. 2022 erhielt er den Biagio-Agnes-Preis für das in La Gazzetta dello Sport und SportWeek veröffentlichte Interview mit Papst Franziskus – das einzige Interview, das ein Papst jemals einem Sportjournalisten gegeben hat.