
Rezepte gibt es nicht
Langsam, beständig, uralt: die ladinische Küche
Vergangen, aber nicht vergessen. Frau Tecla der Ciasa Urban in Badia erinnert sich noch gut daran, dass es, als sie klein war, einen bestimmten Tag gab, an dem mit der ganzen Familie und der Nachbarschaft Brot gebacken wurde. Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht. Es wurde extrem viel Teig für Brot gerührt, denn das musste eine Zeit lang reichen. Das Brot wurde dann getrocknet, damit es das ganze Jahr hielt, man aß es, aufgeweicht in Milch oder Wasser, oder was gerade da war. Es ist noch nicht so lange her, nur ein paar Jahrzehnte, dass in Alta Badia auf so Brot gebacken wurde, erinnert sich Tecla, durch die rasanten Entwicklungen aber scheinen es Jahrhunderte.
Im Gegenzug dazu ist die ladinische Küche langsam, beständig und hat einen altehrwürdigen Geschmack. Für Tecla ist das normal, sie lacht mich aus, wenn ich sie bitte, mir von der ladinischen Küche zu erzählen oder mir Rezepte zu geben. Rezepte? Gibt es nicht. Gekocht wird, wie es die Großmütter taten. Ladinische Küche bedeutet für sie Kindheit, die nach Sommer und frischem Johannisbeersaft schmeckt. Nicht anders ergeht es mir ein Stück weiter am Runch Hof, wo ich genau in dem Moment die Küche betrete, als die Familie von Enrico Nagler Stück um Stück die Cajinci, die halbmondförmigen, mit Spinat gefüllten Kartoffelteigtaschen, von Hand zudrückt. Das ist Hausmannskost, sagt man mir, gerade so, als ob es seltsam wäre, mir die Außergewöhnlichkeit von etwas ganz Gewöhnlichem erklären zu müssen. Doch gern zeigt man mir dann genau, dass Tutres runde, mit Kräutern, Kartoffeln, Sauerkraut oder Ricotta gefüllte Krapfen aus hauchdünnem Blätterteig sind und noch heiß mit der Hand gegessen werden, während die andere Panicia (Gerstensuppe) löffelt. Einmal ein Biss vom Krapfen, dann ein Löffel Suppe. So wird’s gemacht.
Eins habe ich hier sicher verstanden: Es gibt sie nicht, die eine Ladinische Küche. Vielmehr hat jedes Tal seine Feinheiten und kleinen Unterschiede, wie in der Sprache. Abgesehen von einigen wenigen Gerichten geht es bei der ladinischen Küche um einen bestimmten Stil, eine Art zu kochen, eine Haltung, wenn man so will. Eine arme und einfache, aber äußerst ideenreiche Küche mit Substanz sei sie, heißt es, denn harte Arbeit stand an der Tagesordnung und Essen musste in erster Linie ernähren.
Tutres beispielsweise wurden samstags gekocht, weil ihre Zubereitung viel Zeit in Anspruch nahm. Auch wurden immer mehr als notwendig zubereitet, damit für den Sonntag darauf noch etwas übrig blieb.
Überhaupt ist Zeit die wichtigste Zutat der ladinischen Küche, denn die braucht man. Und es gab ja reichlich davon – gratis. An ziemlich allem anderen fehlte es nämlich. Die Zutaten der traditionellen ladinischen Rezepte lassen sich an einer Hand abzählen: Mehl, Butter, Gerste, Kartoffeln, Kräuter. Gerste, weil es das Getreide ist, das am schnellsten auch mit wenig Sonne reift. Für Mehl hat man auch die Früchte des Johannisbrotbaums (aka Bockshörndl) oder getrocknete Ackerbohnen gemahlen. Mohn aß man und mit den Samen wurden Krapfen gesüßt.
Jenseits der Aufzählung von Gerichten oder Zutaten merkt man jedes Mal, dass es sich um ladinische Gerichte handelt, wenn man auf alte, simple und raffinierte Aromen stößt, die das Tor zu aberhunderten von Geschichten über Mühsal und Magie, über schlichte wirkungsvolle Rituale, über Gemeinschaft und Natur eröffnen. Das Kochen selbst scheint hier aus der Zeit gefallen, ist aber immer achtsam, denn nichts wird weggeworfen, alles wiederverwertet, immer vorausgeplant, Reserven angelegt, intelligent gespart, elegant gewirtschaftet. Warum sie so gut schmecken, frage ich Antonio, auch Tone, der auf seinem Hof Alfarëi immer viele Tourist:innen bewirtet und sie die ladinischen Gerichte kosten lässt? Er wisse es nicht, er glaube aber, es liege daran, dass sie einfach und natürlich sei. – Das ist sie in der Tat. Ursprünglich, weil unverfälscht.


Bevor 1892 die Straße ins Gadertal eröffnet wurde, benötigte man für die weniger als dreißig Kilometer von Bruneck nach Corvara zehn Stunden. Einen Grund, ins Tal zu kommen, gab es nicht. Die ersten Gäste reisten aus England und Deutschland an und wurden neugierig beäugt. Die ersten Besucher der Dolomiten waren Geologen, die als exzentrisch galten, weil sie mit großem Interesse Geld gegen Steine tauschten. Zu jener Zeit gab es im Tal noch keinerlei touristische Entwicklung; und das sollte noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg anhalten. In den 1970er Jahren begann die Abkehr von den traditionellen Berufen, da der Tourismussektor neue Beschäftigungsmöglichkeiten bot. Der Wunsch nach einem moderneren Leben wuchs und mit ihm auch nach moderneren Lebensmitteln.
Die Abgeschiedenheit der ladinischen Küche ermöglichte es ihr, sich gegen äußere Einflüsse zu schützen, echt und ursprünglich zu bleiben, wenn auch unter großer Anstrengung. Sie ist eine Kombination aus Gebiet, Klima und Menschen. Vor allem aber ist sie das Ergebnis von Erfindungsgeist und Erfahrung der Männer und Frauen in diesem besonderen Gebiet und Klima, oft zum eigenen Nachteil. So war es der Fall mit den Kartoffeln – im Ladinischen soni oder sansoni. Die Geschichte ist erzählenswert und beginnt 1816, dem Jahr ohne Sommer, in dem die Sonne nicht aufging, nicht schien und nicht wärmte. Viel später erfuhr man von der Ursache: Ein dermaßen heftiger Ausbruch eines Vulkans in Indonesien verdunkelte mit Aschenflug den Himmel über Europa. Um möglichst viele Menschen vor Hungersnot zu bewahren, wurden aus Sachsen große Mengen Kartoffeln angeliefert, die man im Tal noch nie gesehen hatte und man auch nicht wusste, wie sie gegessen oder zubereitet werden. Roh? Gekocht? Soni oder sansoni – klingt wie Sassonia für Sachsen auf Ladinisch, oder? Sprache und Essen verbindet immer eine Geschichte ...
Die ladinische Küche leitet ein weiblicher, alchemistischer Ansatz, der nährt und inspiriert, wenige und simple Zutaten in komplexe und nahrhafte Kreationen verwandelt. Sie erneuert und heilt, ist großzügig und partizipativ, geistig und handwerklich kreativ. Sie handelt anderen gegenüber verantwortungsbewusst, respektvoll und ressourcenschonend künftigen Generationen gegenüber. Sie kennt die Wildkräuter, nutzt sie zum Heilen, für Kräutertees, Salben und Sirupe. Sie weiß die Kraft von Mond und Sternen zu interpretieren.


Bevor meine gastronomische Reise zu Ende geht, besuche ich noch das Istitut Ladin Micurá de Rü, das sich für den Schutz und die Förderung der ladinischen Sprache einsetzt, um ihren schriftlichen und mündlichen Gebrauch zu bewahren. Lange Zeit war Ladinisch ausschließlich eine mündliche Sprache, die keinen wirklichen Bedarf an Schriftlichkeit hatte. Heute besteht jedoch die dringende Notwendigkeit, neue Wörter und Neologismen zu schaffen, um die Gegenwart zu beschreiben, denn der traditionelle, mit dem bäuerlichen Leben verbundene Wortschatz ist oft unzureichend. Die Wörter der ladinischen Sprache können mit den Rezepten der ladinischen Küche verglichen werden: Es gibt einige wenige, simple, eng mit der Tradition und dem Alltag des ruralen Lebens verbunden. Vielleicht macht sie gerade diese starke mündliche Komponente so unsterblich. Schrift fixiert den Wortschatz, während sich Sprache wie Kochen ständig weiterentwickelt und der Gegenwart anpasst. Als alte, in der bäuerlichen Welt entstandene Sprache verfügt das Ladinische über ein reiches Vokabular zur Beschreibung einer Welt, die heute nur mehr teilweise existiert. Einige Wörter sind in Vergessenheit geraten, andere müssen neu gedacht werden, um die ladinische Sprache und Kultur am Leben zu halten.
Kulinarik spricht eine universelle Sprache, die nicht in Worte gefasst werden muss. Für mich als Gastronomin prägen Rezepte und das Kochen die Identität einer Region und Gemeinschaft, für einen Sprachwissenschaftler hingegen die Sprache. Wie die Sprache unterscheidet sich auch die Küche von Tal zu Tal, von Haus zu Haus, von Familie zu Familie und bleibt sich dabei doch immer treu. Kochen ist jedoch, wie der Anthropologe Franco La Cecla behauptet, die zugänglichste Schwelle einer jeden Kultur. Es ist einfacher ein typisches Gericht zu essen, als das Ladinische zu erlernen. Auf mich trifft das voll und ganz zu, denn ich bin ein hoffnungsloser Fall, was Sprachen angeht, aber Essen verstehe ich. Wie die Menschen hier. Wenn ich also Roggenbrot schmecke, wenn ich die heiße Butter über die Knödeln zischen höre, wenn ich das zarte Fleisch sehe, das nach stundenlangem Garen weich vom Knochen fällt und den Duft von Gewürzen und Bergkräutern verströmt, wenn ich mich in den endlosen Duftnuancen eines Apfelkuchens verliere, dann verstehe ich sehr genau, was die Ladinische Küche ist, warum sie existiert und Bestand hat.
Martina Liverani ist Journalistin, Autorin und Gourmet mit großem Interesse für Lebensmittel und Menschen. 2013 gründete sie die Zeitschrift „Dispensa“, die 2017 den „Gourmand World Cookbooks Award“ als bestes italienisches Food Magazine und zweitbestes weltweit gewann. Über das Kochen schreibt sie für La Repubblica, Vogue Italia, Monocle, Vanity Fair, Identità Golose, La Cucina Italiana und weitere Magazine. Außerdem hat sie die Bücher „Manuale di cucina sentimentale“ (Baldini&Castoldi, 2013) und „Atlante di Geogastronomia“ (Rizzoli, 2020) veröffentlicht.