Webcam
de
  • Anreise
  • Tourismusbüros
  • Nützliche Telefonnummern
  • Geschäfte & Dienstleister
  • Südtirol Guest Pass
  • Geschichten & Erzählungen
Webcam
de

Da steppt der Bär

Die faszinierende Geschichte des Höhlenbären Ursus ladinicus

Veröffentlicht am 30.05.2025

Wer einmal in den Dolomiten war, vergisst deren Anblick nicht so schnell wieder. Auch mehrmalige Besuche bestätigen höchstens das, was sich beim ersten Kennenlernen mit diesen Bergen schon erahnen ließ: Sie sind wirklich so schön und sie werden auch nicht hässlicher. Es ist physisch (womöglich auch physikalisch) nicht möglich, diese weißen Riesen nicht anzuhimmeln. Es ist wohl ein wenig so wie beim Anblick einer einsamen Karibikinsel mit riesigem, sich im weißen Sand sonnenden Reptil aus anderen Gezeiten – verewigt auf einer Postkarte mit dem Untertitel „Liebe Grüße aus dem Paradies“ … Auf einem der Dolomiten-Gipfel hoch oben oder von unten aus dem Tal die Gesteinsformationen betrachtend, scheint der bloße Gedanke daran absurd, aber es ist so: Einst lag auch hier ein riesiges Reptil und sonnte sich in einem tropischen Umfeld auf weißem Sand. Einst bedeutet in diesem Fall vor mehr als 200 Millionen Jahren und tropisches Umfeld bedeutet, dass anstelle der heutigen Bergspitzen kleine, paradiesische Inseln aus dem Urmeer, der Tethys, ragten.

Ja, die Dolomitenregion war auch mal Meer. Sie war Sandstrand, sie war Unterwasser, sie war Heimat unzähliger Spezies, die uns in Form von Fossilien aus der Vergangenheit liebe Grüße senden. Da soll eine*r sagen, Gestein sei nicht lebendig. Ein Stein vermehrt sich zwar nicht, hat keine Zellen und führt auch keinen Stoffwechsel durch. Aber sind es nicht die Geschichten und Erinnerungen daran, die alle Wesen und Dinge dieser Erde am Leben erhalten? Die Dolomiten sind jedenfalls Storyteller sondergleichen: Von seichten Lagunen über Unterwassertierchen und sich sonnenden Reptilien lassen sich in diesem Gestein, auf diesem besonderen Fleckchen Erde, unzählige Geschichten entdecken. Eine davon, handelt von wilden Löwen und vegetarischen Bären.

Die Entdeckung der Conturineshöhle

Es war einmal ein abenteuerlicher und neugieriger Hotelier aus Corvara, namens Willy Costamoling. Eines unscheinbaren Septembermorgens im Jahr 1987 stieg der Gadertaler hinauf bis unter die Conturines-Spitze, um dort nach Fossilien zu suchen. Das ladinische Volk, welches das Glück hat, heute an eben der Stelle des sich einst sonnenden Reptils leben zu dürfen, weiß natürlich um die Gabe der Erzählung der Dolomiten und sucht daher immer wieder nach neuem Geschichtenmaterial. An besagtem Tag fand Costamoling jedoch keine Fossilien, entdeckte dafür aber den Eingang zu einer Höhle. Er kehrte zurück ins Tal und begab sich am Tag darauf wieder zum Höhleneingang – dieses Mal mit Seil und Stirnlampe ausgerüstet – und betrat die Höhle. Nach etwa hundert Metern steilem und dunklem Gang nach oben stieß Costamoling auf einen sonderbaren Tropfstein, den er sogleich Vardian, Ladinisch für Wächter, taufte. Hinter diesem Wächter lagen tausende von Knochen auf dem Höhlenboden. Nach kurzem Schock – aufgrund der einzigartigen Entdeckung – packte Costamoling – stets staunend – seinen Rucksack mit Knochen voll und trug sie mit sich zurück ins Tal. Der Zufall wollte, dass Costamoling auf den Höhlenforscher Prof. Gernot Rabeder traf, der die Knochen sofort als jene von Höhlenbären identifizierte und bereits im Folgejahr mit einem Forscher*innenteam der Universität Wien mit Grabungen in der Höhle begann. Über mehrere Jahre wurden ab da, jeweils im Sommer, Tausende von Knochen ausgegraben. Deren Auswertung und Bestimmung ergaben, dass es sich um Knochen eines Höhlenbären, einer neuen Unterart des Ursus spelaeus handelte. Zu Ehren der Ladinerinnen und Ladiner, den heutigen Wächter*innen dieses Gebiets, wurde der Bär Ursus spelaeus ladinicus genannt – für Freund*innen und Fans kurz Ursus ladinicus.

Der Winnie-the-Pooh der Berge

Die Forschungen auf Basis der Knochen aus der Conturineshöhle ergaben, dass der Ursus ladinicus stolze 1.200 Kilogramm auf die Waage brachte und bis zu 2,6 Meter lang wurde. Außerdem war der Höhlenbär ein reiner Pflanzenfresser, so wie alle seine Verwandten. Um sein vegetarisches Futter gut zerkauen zu können, hatte ihm die Evolution über Jahrtausende ein passendes Gebiss beschert, mit großen und flachen Backenzähnen und kleinen Höckern auf den Zahnkronen. Damit zermahlte der Ursus ladinicus die Pflanzen, die er fraß, und graste langsam und entspannt wie heutige Kühe die bunte Bergvegetation ab. Leibspeise des Bären waren wohl weiche Almkräuter und Blätter, da hartes Gras für seine Zähne nicht gut gewesen wäre.

Doch nicht nur in Sachen Ernährung war der Ursus ladinicus ein friedlicher und genussvoller Kompagnon: Die Reste von etwa sechzig ausgewachsenen Höhlenbären und vielen Bärenkindern, die in der Conturineshöhle gefunden worden waren, lassen darauf schließen, dass die Höhle als Winterschlafresidenz des Ursus ladinicus diente. Als sanfter Genießer wusste der Höhlenbär um die heilende Kraft des Schlafes und so suchte er die Höhle gegen Herbstende auf und tauchte erst wieder aus seinem Schlaf auf, wenn draußen leckere Kräuter gewachsen waren. Die Höhle war für den Ursus ladinicus also kein Friedhof, im Gegenteil: Die Weibchen brachten hier während des Winterschlafs sogar ihre Jungen zur Welt. Ach, und der Ursus ladinicus hatte übrigens auch kein Problem mit Gendern und einem geteilten Raum für alle: Im Gegensatz zu anderen Höhlen, wo entweder männliche oder weibliche Bären den Winterschlaf verbrachten, machten es sich in der Conturineshöhle alle unter einem Dach gemütlich. Die gefundenen Knochen in der Höhle sind wohl von jenen Tieren, die während des Winters aufgrund von Altersschwäche oder Krankheit verendet sind, und haben sich über mehrere Jahrtausende Winterresidenz der Höhlenbären angehäuft.

Hitzige Zeiten und Jäger

Neben den vielen Knochen des Ursus ladinicus wurden in der Conturineshöhle auch bedeutende Überreste eines Höhlenlöwen entdeckt: Teile eines Unterkiefers sowie Fragmente eines Oberkiefers mit einigen Zähnen. Der Höhlenlöwe (Panthera spelaea) war vor etwa 370.000 bis 12.400 Jahren weit verbreitet und auch in den Dolomiten keine Seltenheit. Die feurigen Jäger waren wohl der Feind Nummer eins des Ursus ladinicus, was darauf schließen lässt, dass er sich nicht nur zum Winterschlaf, sondern auch zur Flucht vor dem scharfsinnigen Löwen in die Höhle zurückzog. Der Löwe selbst nutzte die Höhlen lediglich zum Jagen, lebte aber nicht darin.

Die allgemeine Vorstellung verbindet nun wohl die hellen Bergspitzen der Dolomiten mit dem berühmten Königsfelsen aus „König der Löwen“ und wieder scheint es schwer vorstellbar, dass diese prächtigen Raubtiere dort lebten, wo heute Skipisten verlaufen. Dies liegt daran, dass zur Zeit von Höhlenlöwen und -bären ein viel milderes Klima, noch wärmer als heute, geherrscht haben muss. Andernfalls wäre es dem gemütlichen Ursus ladinicus unmöglich gewesen, auf 2.700 Metern Höhe – der heutigen Höhe der Contiruineshöhle – leckere Kräuter zu finden.

Höhlenmalereien in diversen Teilen der Welt belegen die Existenz des Höhlenlöwen vor etwa 36.000 Jahren – also ein Zeitgenosse des Neandertalers und des frühen modernen Menschen. Die Radiokarbondatierung – eine der wichtigsten Methoden zur Bestimmung des Alters organischen Materials – ergab, dass die Bärenknochen aus der Conturineshöhle älter als 50.000 Jahre sind. Dies ist auch das maximale Alter, das sich mit dieser Methode bestimmen lässt. Wann genau Bär und Löwe also die Bewohner des heutigen Ladiniens waren, bleibt vorerst noch ungeklärt. Ebenso wird weiterhin zu den damaligen klimatischen Bedingungen und Prozessen geforscht, die schließlich auch eine Auskunft über die (klimatische) Zukunft der Dolomiten bieten könnten. Ungewiss ist auch, wann und warum der Ursus ladinicus von der pittoresken Bildfläche verschwunden ist.

Gewiss hingegen ist, dass diese einmaligen Berge noch viele weitere Geschichten zwischen ihren Sedimenten bereithalten. Jene vom Ursus ladinicus gilt es im gleichnamigen, dem prähistorischen Höhlenbären gewidmeten Museum in San Cassiano zu entdecken. Und wer sich auf die Spuren des Bären begeben will, besteigt am besten die Höhle selbst in Begleitung einer Führung.

Elisa Barison arbeitet als freischaffende Kuratorin und Publizistin. Sie interessiert dieSchnittstelle zwischen ruralen und urbanen Prozessen und Räumen. Sie studierteKunstgeschichte und Publizistik an der Universität Wien und erhielt einen MBA inCultural Management an der ICART Paris. Aktuell baut sie mit ihrem Partner inBrixen, neben ihrer Arbeit im Kulturbereich, auch Wein und Blumen an.

Alta Badia hat vieles zu erzählen
Eine schneereiche Geschichte

Skifahren 

Anna Quinz
Die Ganes und die Salvans

Lesenswerte Legenden

Giovanni Battista Alton
Illustration Silvia Baccanti
Interview mit der Illustratorin

Silvia Baccanti

Claudia Gelati
Ladiniens Ursprungssagen

Von den Murmeltieren und dem Volk der Fanes

Ulrike Kindl
La stüa, Herz des Hauses

Die Stube im Gadertal

Katharina Moling
Die Tavellas

… und wenn sie nicht gestorben sind, dann schaffen sie heute noch …

Elisa Barison
Loading